Pyramiden – Geocachen in einer Geisterstadt am Polarmeer

Zwei Wochen Cachen im hohen Norden Europas. Das sind zwei Wochen voller Highlights. Wir besuchten zwei Mega-Events, machten einen Abstecher ins Land der Eisbären nach Svalbard und holten uns dort neben unfassbaren Eindrücken auch den seltenen Länderpunkt für Spitzbergen und Jan Mayen. Wir begaben uns zu einer verlassenen sowjetischen Bergbausiedlung im Polarmeer und suchten die Caches am nördlichsten Rand Kontinentaleuropas. Zwei Wochen sahen wir die Sonne nicht untergehen.

In sechs Berichten nehmen wir Euch virtuell mit auf diese Tour:

Pyramiden – Eine Geisterstadt am Polarmeer

Pyramiden Spitzbergen Eisbär Platz Denkmal
Pyramiden – Einst eine blühende Stadt versprüht sie heute die Nostalgie vergangener Tage

Eine sowjetische Geisterstadt auf dem norwegischen Archipel Svalbard (Spitzbergen), in der einst russische und ukrainische Bergarbeiter und ihre Familien lebten. Seit 1998 ist die Stadt verlassen und eröffnet uns die Möglichkeit in die Vergangenheit zurückzureisen, um einen kurzen Blick in die konservierte Geschichte einer sozialistisch geprägten Gesellschaft zu werfen. 

Pyramiden war eine Bergarbeitersiedlung und doch war nicht der Kohleabbau der eigentliche Grund für die Sowjetunion eine ganze Stadt auf Spitzbergen zu gründen und dort Unmengen von Geld in Bergbauanlagen und städtischer Infrastruktur zu investieren. Unter dem Permafrost im Inneren des steilen Berges konnte nur ein winziges Tausendstel der Kohle entnommen werden, die zur gleichen Zeit in der Region Kusbass im Südwesten Sibiriens gefördert wurde. Doch wozu das Ganze dann? Dieser Frage wollten wir auf den Grund gehen und uns gleichzeitig in diese längst vergangene Zeit zurückversetzen, die vom Klassenkampf des Sozialismus gegen den Kapitalismus und Ost gegen West, geprägt war. Natürlich haben wir auch die Geocaches dieses besonderen Ortes besucht.

Von Eisbären, Rentieren und Polarfüchsen

Am Stadteingang, unweit der Anlegestelle unseres Schiffes aus Longyearbyen, sehen wir Nikolaj stehen. Er ist einer der derzeit zehn ständigen Bewohner von Pyramiden zur Sommerzeit und unser heutiger Guide durch die verlassene Siedlung. Ein blonder, mittelgroßer Russe mit kurzem Bart und durchdringenden blauen Augen. Über seinen Schultern hängt ein Gewehr aus längst vergangenen Zeiten. Er versichert uns, dass es noch funktioniert und deutet auf die dazugehörigen 8 mm Patronen an seinem Gurt. Zusätzlich trägt er eine Leuchtpistole. Wieso wir so martialisch begrüßt werden liegt auf der Hand. Hier draußen kann jederzeit ein Eisbär um die Ecke kommen. Gerade letzte Woche wurde einer gesichtet – keine 100 Meter außerhalb der Stadt, erzählt Nikolaj uns auf englisch mit dem unverwechselbaren russischen Akzent. Ob das tatsächlich stimmt, oder er einfach nur für eine zum Ort passende Stimmung sorgen möchte, wissen wir nicht. Es ist auch egal, denn die Gefahr einer Begegnung mit einem Eisbären ist hier tatsächlich vorhanden. Vor zwei Jahren verirrte sich einer der weißen Riesen  in die Siedlung und schlug mehrere Fensterscheiben ein. Wir schauen uns um, können aber  keine Eisbären erblicken und sind auch froh drum. Anders als Braunbären, betrachtet ein Eisbär den Menschen durchaus als direktes Beutetier. Entsprechend kritisch kann eine direkte Begegnung ausgehen. Leider sehen wir auch keine Polarfüchse und Rentiere, die vergleichsweise häufig in der Siedlung auftauchen.

Nikolaj führt uns zu einem hohen roten, dreieckigen Denkmal, auf dem der Name der Stadt in russischer und englischer Sprache geschrieben steht. Dahinter breitete sich ein enges Tal aus, flankiert durch das Polarmeer auf der Südseite und eisigen Gipfeln auf der Nordseite, deren Hänge von der Form her an ägyptische Pyramiden erinnern. Sie gaben der Siedlung auch ihren Namen.

Pyramiden Spitzbergen Polargirl
Ankunft in Pyramiden – Die MS Polargirl
Pyramiden Spitzbergen Hafengelände
Das Hafengelände von Pyramiden – Von hier aus wurde einst die geförderte Kohle verschifft

Cachen unter Lenins strengem Blick

Der Archipel von Spitzbergen war jahrhundertelang ein gesetzloses Land, das nur von Walfängern und Entdeckern heimgesucht wurde. Im Jahr 1920 unterstellte der Spitzbergen-Vertrag die Insel der Souveränität Norwegens, wobei die kommerziellen Nutzungsrechte allen Unterzeichnerstaaten vorbehalten waren. Im Jahr 1936, erwarb die Sowjetunion Nutzungsrechte für Kohlefelder auf Spitzbergen. Zum einen betraf das die Gegend in Pyramiden und zum anderen die Barentsburg etwa 100 km weiter südlich. Eine eigens dafür gegründete staatliche Bergbaugesellschaft, die Trust Arktikugol, übernahm den Betrieb der Anlagen. Das Bergwerk in Barentsburg wird noch heute von der Russischen Föderation bewirtschaftet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg investierten die Sowjets viel Geld in die Bergbauaktivitäten auf Spitzbergen. In Pyramiden errichteten sie Dutzende neuer Gebäude, darunter ein Krankenhaus, ein Erholungszentrum (Kulturpalast) und eine große Cafeteria mit einem riesigen Mosaik, nordischer Helden-Legenden. Die Gebäude wurden im typischen sowjetischen Blockstil und mit abgerundeten Kanten gebaut, um die Auswirkungen des bitteren Winterwinds zu mildern. Die Einheimischen hatten für fast alle Gebäude und die Infrastruktur in Pyramiden Spitznamen. Die Hauptverkehrsstraße nannten sie „Champs Élysées“. Das Gebäude, in dem alleinstehende Männer lebten, hieß “London”, das Wohnhaus für alleinstehende Frauen “Paris”, und Familien mit Kindern wohnten im “Crazy House”. Noch heute gibt es Gerüchte, dass ein geheimer Tunnel London und Paris verbunden haben soll.

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Lenin blickt auf seine Stadt

Wir erreichen den zentralen Platz der Siedlung. Nikolaj bleibt vor der Büste des großen Revolutionsführers Lenin stehen. Sie thront regelrecht über der Stadt und ist gleichzeitig die nördlichste Statue des russischen Volkshelden überhaupt. Lenin hütet auch ein Geheimnis, von dem wir wissen und Nikolaj sicherlich auch. Er ist Teil des Earthcaches „Pyramiden“ (GC1XCWW). Die Koordinaten zeigen direkt auf ihn auch wenn die Fragen des Listings nichts mit der Oktoberrevolution in Russland zu tun haben, sondern die geologischen Besonderheiten Spitzbergens zum Thema haben. Wir sind sicher nicht die ersten Besucher Nikolajs, die ihm ganz bestimmte Informationen entlocken möchten. Er weiß natürlich über den Earthcache beschied und auch über den Tradi, zu dem wir später noch kommen sollen. „Ah you are looking for this hidden box?“ entgegnet er uns als wir ihn darauf ansprechen, dass wir später den üblichen Weg verlassen möchten um noch etwas zu erledigen. Er nickt zustimmend gibt uns aber zu verstehen, dass wir in Sichtweite bleiben sollen und deutet auf sein Gewehr, um uns nochmal die reale Gefahr einer Eisbärbegegnung bewusst zu machen. Das ist auch in unserem Interesse.

Unsere Gruppe hat die Zeit genutzt um Fotos in der unmittelbaren Umgebung zu machen. Eine junge Engländerin ist schon seit geraumer Zeit damit beschäftigt, das „perfekte“ Instagram-Selfie mit Lenin anzufertigen. Das scheint ihr nun gelungen zu sein, zumindest lässt es ihr zufriedener Gesichtsausdruck vermuten. Das Hochladen des Bildes muss jedoch noch warten. Es gibt hier draußen keinen mobilen Internetempfang.  

Nikolaj  ruft uns zusammen und zeigt auf das große Gebäude hinter Lenin.  „Das ist der Kulturpalast, das zentrale Gebäude von Pyramiden und der Ort der Zusammenkunft seiner Bewohner. Dort gehen wir jetzt rein.“ Im Kulturpalast befanden sich eine Bibliothek, ein Kraftraum, ein Basketballplatz und ein großes Auditorium, in denen verschiedene Musik- und Theateraufführungen stattfanden und Filme gezeigt wurden. Außerdem verfügte es über ein Ballettstudio und Übungsräume für Musikinstrumente.

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Die Sporthalle im Kulturpalast

Zu Gast in der Cafeteria und der arktische Kühlschrank

Die 1980er Jahre waren der Höhepunkt der Stadt. Zu dieser Zeit lebten dort über 1000 Menschen. Die Kohlengruben in Pyramiden waren nie rentabel und immer auf Zuschüsse und Subventionen aus der UdSSR angewiesen.  Sie wurden dennoch gefördert. Die Sowjetunion betrachtete die Bergwerke in Spitzbergen als Prestige- und Schauobjekte gegenüber dem Westen. Zum anderen verschaffte man sich mit der permanenten Präsenz auf einer Insel im Einflussbereich des Klassenfeindes, geostrategische Vorteile.  Eine Anstellung in dem hiesigen Bergwerk galt entsprechend auch als Privileg und war einer der begehrtesten Arbeitsplätze der Sowjetunion. Nur die besten Techniker und Arbeiter wurden für die arktischen Kolonien rekrutiert. Die Lebensqualität war besser als in den meisten Orten des sowjetischen Festlandes.

Für die Sommermonate wurde ein Spielplatz mit Schaukeln, Rutschen und einem kleinen Klettergerüst sowie ein Fußballplatz eingerichtet. Pyramiden verfügte sogar über ein beheiztes Hallenbad, das auch von Kindern aus dem entfernten Longyearbyen genutzt wurde. Es war das einzige Hallenbad auf ganz Spitzbergen und für seine Zeit sehr beeindruckend.

Pyramiden Svalbard Spitzbergen AllzweckkleberGeocaching
Allzweckkleber beim Loggen von GC25DZ4

Nachdem wir uns im Kulturpalast umgesehen und reichlich Fotos gemacht haben, trennen wir uns von der Gruppe. Unser Weg führt uns zum Tradi „The Pyramid“ (GC25DZ4). Er liegt  unter der Veranda eines der typischen roten Holzhäuser von Pyramiden versteckt. Schnell können wir, unbeobachtet von den Blicken der restlichen Gruppe, die Dose finden und loggen. Für uns sind der Tradi und der Earthcache die beiden nördlichsten Dosen, die wir bislang in unserer „Geocaching-Karriere“ loggen konnten. Schon sehen wir Nikolaj mit dem Rest der Gruppe in unsere Richtung laufen. Wir schließen uns wieder an und erreichen einen Wohnkomplex, der mittlerweile vollständig von den hier ansässigen Möwen in Beschlag genommen wurde und ihnen als Behausung und Brutstätte dient.

Nikolaj deutet auf die kleinen Quadrate in der unteren linken Ecke eines jeden Fensters. Sie sehen wie Klimaanlagen aus. Das macht jedoch keinen Sinn. Selten erreichen die Temperaturen im Sommer hier mehr als acht Grad Celsius. Tatsächlich handelt sich um improvisierte Kühlschränke die für verderbliche Speisen vorgesehen waren. In der dauerhaften Kälte in Spitzbergen konnte man sie auf diese Weise frisch halten. Über eine Küche verfügten die Appartements nicht. Die Hauptmahlzeiten wurden in der zentralen Cafeteria der Stadt eingenommen, die das nächste Ziel unserer Tour ist.  

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Das Mosaik der ehemalige Cafeteria zeigt nordsiche Heldensagen

Das tragische Ende von Pyramiden

Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, begannen die Zuschüsse aus deren Nachfolgestaaten abzunehmen. Als Folge daraus entstanden Engpässe in der Versorgung der Stadt, die Gehälter sanken und der gesamte Lebensstandard fiel deutlich.

Nikolaj berichtet uns von einer großen Tragödie, die sich inmitten der ganzen wirtschaftlichen Probleme im Jahr 1996 ereignete. Auf dem Weg von Moskau zum Flughafen von Svalbard in Longyearbyen, stürzte eine von der Arktikugol gecharterte Tupolew-Maschine der Vnukovo Airlines ab. Alle 130 Passagiere an Bord, Minenarbeiter und deren Familien sowie elf Crew-Mitglieder, starben bei dem Unglück. Es folgten Streitigkeiten zwischen den Familien der Hinterbliebenen und Arktikugol um Entschädigungszahlungen. Die Moral und Stimmung in der Bevölkerung von Pyramiden war an einem Tiefpunkt angelangt. Der Absturz trug dazu bei, dass die Diskussionen um einen Fortbestand von Pyramiden inmitten der desolaten wirtschaftlichen Situation in der sich Russland befand, weiter zunahmen. Im Jahr 1997 erklärte Arktikugol, dass für eine Fortsetzung des Bergbaus in Pyramiden hohe Investitionen getätigt werden müssten, um zu neuen Kohleschichten zu gelangen, die sich tief im Berg befanden. Weder die russische Wirtschaft, noch die instabile russische Regierung sahen sich in der Lage diese Investitionen durchzuführen. Anfang des Jahres 1998 fiel die endgültige Entscheidung zur Stilllegung der Anlagen.

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Die Tragödie von 1996 besiegelte den Untergang von Pyramiden Quelle: Wikipedia

Am 31. März 1998 wurde die letzte Kohle aus der Mine gefördert und die letzten 300 Arbeiter die noch dort lebten begannen mit ihrer Verschiffung. Etwa die Hälfte dieses Arbeiter entschied sich dafür, in Spitzbergen zu bleiben und weiterhin für Arktikugol in Barentsburg zu arbeiten, während der Rest das Unternehmen verließ und nach Russland zurückkehrte. Am 10. Oktober 1998 – kurz vor dem Eintreffen des winterlichen Eises – reisten schließlich die letzten ständigen Bewohner der Siedlung ab. Aus Pyramiden wurde eine Geisterstadt.

Zurück an der Anlegestelle verabschieden wir uns von Nikolaj. Wir waren die erste Besuchergruppe der neuen Saison. Viele werden in den nächsten Wochen noch folgen, bevor das Eis und die Polarnacht des Winters, die Siedlung für mehrere Monate wieder zu einer echten Geisterstadt ohne Besucher machen werden.      

5 Kommentare:

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